Das Kunstportal der Stadtsparkasse Wuppertal
85 Hans Reichel verfolgen, wie er für die ihm jeweils vorschwebenden Klänge die ge- eigneten Spieltechniken und schließlich auch die adäquaten Instrumente gefun- den, erfunden, entwickelt hat. All das beginnt mit der frühen, nicht dem Unterrichtsideal entsprechenden Annä- herung an die Violine, eine Ikone der eu- ropäischen Musiktradition. Wie Hans Reichel mit der Geige umgeht und im Duo mit einem ähnlich vorurteilsfreien Musiker, dem Akkordeon und Concertina spielenden Rüdiger Carl, zusammen- findet, kann man auf einem Album nachhören, das Kindheitserinnerungen beschwört und zugleich auf Kommendes, Unerwartetes hindeutet. Hans Reichels „unorthodoxe“ Instrumentalbehandlung beginnt mit ungewöhnlichen Fingersät- zen und „Handhabungen“ von Gitarren, führt weiter über das Verändern von Gi- tarrenkonstruktionen und eigenwillig in- stallierten Tonabnehmern zum Bau völlig neuer Gitarrentypen und zu einer Instru- mentenfamilie, für die sich Hans Reichel ein Copyright in der Musikgeschichte ein- tragen lassen kann: die Daxophone. Die mit einem Bogen zum Klingen gebrach- ten Holzzungen offenbaren frappierende Ähnlichkeiten zu Menschen- oder Tier- stimmen wie auch zur Expressivität, die Jazzmusiker auf Blasinstrumenten erzeu- gen. Doch letztlich geht es nicht um die Assoziation zu den Schreien eines Dachs, schon gar nicht um die Imitation eines Saxophons. Es geht um die Hans Reichel gemäße Klang- und Ausdruckswelt. Ihn als Bastler oder Tüftler darzustellen, ver- kürzt seine Intentionen auf den techni- schen Aspekt, auf einen Teilaspekt seines – Instrument, Spielweise, Vokabular und Vision – integrierenden Schaffens. Auf der Reise in das Innenleben der Sounds entdeckt der Gitarren- und Daxophone Spielende selten gehörte Schönheiten jenseits der abgegriffenen Gefälligkeiten. Auch das macht Hans Reichel besonders: Er hat keine Scheu vor dem, was in- und außerhalb des Ungeahnten und Uner- warteten populär klingen könnte. Auch wenn er nie nach dem Publikum schielt, so impliziert seine Musik doch Adressa- ten, die die Scheuklappen bzw. die Ohr- stöpsel abgelegt haben und neugierig darauf sind, sich auf neue Klangwelten einzulassen. Hans Reichel bewies selten anzutreffende Langzeitenergien. Das schafft wohl nur ein Musiker, der von dem, was er tut, auf eine subtile Weise besessen ist. Er war längst ein „musicians’ musician“, einer auf den vor allem die Eingeweihten auf- merksam wurden, bevor er öffentliche Anerkennung erfuhr. Koryphäen der im- provisierten Musik wie Derek Bailey oder John Zorn ließen sich von Hans Reichel inspirieren. Wenn er in New York spielt, sitzen ab und an Rockstars im Publikum. In Tokio wird er als Kultfigur gefeiert, spielt er vor ausverkauften Häusern. Der Kollege und gleichfalls als Innovator auf der Gitarre gefeierte Fred Frith schrieb zu einem der Solo-Alben von Hans Reichel: „Während der letzten zwanzig Jahre hat er leise die Gitarre revolutioniert, während der größte Teil der Musikwelt in eine andere Richtung blickte.“ Der Komponist und Improvisator Hans Reichel begegnet uns als der geborene Solist, der sich freilich auch mit Hilfe des Multitrack-Verfahrens zu Daxophon- Orchestern vervielfacht. Wie wunderbar, wenn sich all das mit anderen potenzie- ren lässt. Mit Musikern wie dem Cellisten Tom Cora, Saxophonisten wie John Zorn oder Peter Brötzmann, mit dem Schlagzeug und vieles an- dere spielen- den Eroc, mit Pianisten wie Keith Tippett, Vokalisten wie Phil Minton, Gitarristen wie Wädi Gysi, Fred Frith, Kazuhisa Uchihashi oder René Lussier. Oder denken wir an die Gruppe „X-Communication“ um den Kornettisten Butch Morris, an die „September Band“ mit Shelley Hirsch, Rüdiger Carl und Paul Lovens ... Oder an das weltberühmte Kronos Quartet, das sich anläßlich der Wuppertaler Talklänge von den Streichin- strumenten verabschiedete und gemein- sam mit Hans Reichel eine seiner Kompositionen auf den von ihm erfunde- nen Daxophonen zum Klingen brachte. Hans Reichel hat sich nie mit dem Modi- schen, dem Lauten, dem Spektakulären verbündet, immer auf sich selbst gestellt, beinahe zurückgezogen geforscht, geübt und gespielt. Zu dem, was an ihm faszi- niert, zählt nicht zuletzt die Bescheiden- heit, mit der er seine individuell ausgeformten Sounds in die Welt zu set- zen weiß. So, als ob das eben nur eine von vielen, vielleicht nicht einmal eine notwendig zu leistende Arbeit wäre. Dabei ist es doch etwas, das uns leise zu berühren, über den Moment hinaus zu faszinieren und nach- haltig zu erschüttern weiß. Dr. Bert Noglik, 1999 Mitglieder der Jury zur Vergabe des Kunstpreises: Professor Helga de la Motte-Haber, Institut für Musikwissenschaft, Technische Universität Berlin Walter Fähndrich, Komponist, Musiker, Dozent für Improvisation an der Musik-Akademie Basel, Brissago, Schweiz Stefan Klieme, stellv. Generalmusikdirektor, Wuppertal Professor Dieter Kreidler, Dekan der Hochschule für Musik Köln, Abteilung Wuppertal Dr. Bert Noglik, Freier Autor, Leipzig Hans Reichel wurde 1949 in Hagen geboren und ist 2011 in Wuppertal verstorben.
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