Rudolf Schoofs / Werner Schriefers

07.05. - 06.06.2003

Gemälde und Zeichnungen

In den Zeiten der nach einem Jahrzehnt lärmender Aktivität erstaunlich sang- und klanglos wieder verschwundenen 'Postmoderne' war auch die 'abstrakte Malerei' so endgültig für tot erklärt worden, dass sie sich nicht weiter darum scheren musste und munter weiterexistierte.

Mit welch ungebrochener Vitalität sie es tut, wieviel Zukunft in diesem kunstgeschichtlichen 'Anachronismus' noch stecken kann, zeigen die Lebenswerke dieser beiden Maler der älteren Generation.

Während Rudolf Schoofs neue Gemälde der letzten Jahre zeigt, gibt es eine breitere Auswahl aus dem gesamten Schaffen Werner Schriefers' zu sehen, der nach längerer Krankheit Anfang des Jahres in Köln verstorben war.


Andreas Steffens
Anachronismus mit Zukunft

Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute) desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt. 1


Im Schwund des Selbst - Verständlichen

In der Entdeckung der Welt, mit der die Neuzeit begann, feierte die Malerei die neuen Besitztümer. Die Darstellung des Weltgenusses, der die neuen Lebensformen trug, machte sie zur großen Kunst der Epoche, in deren Spiegel ein neues Leben sich seiner selbst vergewisserte, und denjenigen Ikonen ihrer Stellung verschaffte, die an diesem Weltgenuß am meisten teilhatten: das Portrait der italienischen Renaissance und das Stilleben der flämischen Meister wurden zu den Grundgattungen der europäischen Malerei.
Die Moderne, mit deren Beendigung wir uns noch eine ganze Weile herumschlagen werden, wenn auch zunehmend ermüdet vom Übermaß der Verabschiedungen und Beendigungen, zog herauf, seitdem dieser Weltbesitz fragwürdig zu werden begann, mit dessen Leistung die bürgerliche Gesellschaft entstand und ihre so lange unwahrscheinliche, doch schließlich allein noch realistische Verwandlung der Welt rechtfertigte.

Die große Neuerung der holländischen Kunst jedoch besteht darin, daß die Landschaft und das, was ich die weltlichen Gestalten nennen möchte, nicht mehr als Ausschmückung oder menschliche Ausstaffierung im Hintergrunde einer religiös dekorativen, allegorischen oder dramatischen Szene verwandt werden, sondern sie selber werden zum ausschließlichen Gegenstand des Bildes. Was sie zusammen tun, ihr gemeinsames Sein, das Bündnis, welches sie in Farben und Linien miteinander eingehen und das man eine Komposition nennt: fortan wird uns nichts anderes mehr vor Augen gebracht. (...). Das Repertoire der Welt, (....). Man möchte sagen, für sie hätten die Kanonen niemals gesprochen, niemals hätten sie ein Haus brennen, niemals die Doppelflut der marschierenden Truppen und der fliehenden Einwohner, niemals das verzerrte Antlitz und die Zuckungen des niedergehauenen Bürgers gesehen, der sich in einer Blutlache windet. 2
Noch trug die Zuversicht in die Verheißungen der neuen Welt, und gestattete der Malerei ihr selbstgenügsames Fest der Verherrlichung alles dessen, was es wahrzunehmen gab.

Niemand kam auf den Gedanken zu fragen, wozu diese Kunst existiere, weil eine Welt ohne Bilder ganz einfach unbegreiflich gewesen wäre. (...). Die alten Meister, alle, ohne Ausnahme, konnten Racine nachsprechen: „Wir arbeiten, um dem Publikum zu gefallen“; das heißt, sie glaubten an den Sinn ihrer Arbeit, an die Möglichkeit der Verständigung zwischen den Menschen. Sie bekräftigten die sichtbare Wirklichkeit mit inspirierter Genauigkeit und kindlichem Ernst, als hinge davon die Ordnung der Welt ab, der Umlauf der Gestirne und die Dauerhaftigkeit des Himmelsgewölbes. Gelobt sei diese Naivität.3

Wie sehr die Verheißungen verblaßten, die neue Welt selbst zu einer Fragwürdigkeit wurde, läßt sich an der Befremdung ablesen, die diese Naivität schließlich wecken mußte. Sie bezeichnet den historischen Abstand, und zugleich ein die eigene Geschichte der Kunst bewegendes Motiv: sie wandelt sich in dem Maße, in dem die Erfahrungen sich wandeln, die sie gestaltet.
Von den beiden künstlerischen Signaturen des 20. Jahrhunderts, dem Jazz und der abstrakten Malerei, hat diese am eindringlichsten auf die Erfahrung reagiert, die es beherrschte, in der der Zerfall der europäischen Weltgewißheit seinen bisherigen Tiefpunkt erreichte. Die Erfahrung der Menschen ist in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ebenso wie in seinen Triumphen4 von Veränderung und Beschleunigung, von Verlust und Verschwinden geprägt. Alles, was seit der humanistischen Zuversicht des 18. Jahrhunderts als menschlich gewiß galt, unterlag einem Prozeß sich stetig verschärfender Entwirklichung.
Wann immer das Grauen, die Zerstörung, der Verlust zu einer allgemeinen Erfahrung und damit zum unabweisbaren Gegenstand künstlerischer Erfahrungsgestaltung wird, regt sich in der Malerei der Abstraktionsprozeß und fügt ihm einen weiteren Schritt hinzu.
An seinem Beginn als ästhetische Idee, als formales Experiment entstanden, wird die abstrakte Malerei auf ihrem Weg durch das vergangene Jahrhundert zur Äußerungsform einer revoltierenden Vitalität, in der sich der elementare menschliche Anspruch auf andere Wirklichkeiten äußert als die, die das menschliche Leben grundstürzend versehren und in seiner Selbstgewißheit unabweisbar in Frage stellen. Die abstrakte Malerei ist eine Kunst des Aufbegehrens.
Nach dem Einschnitt des Zweiten Weltkriegs, in dessen Verbrechen gegen die Menschheit dieser Verlust selbstverständlicher Humanität kulminiert, wird die Abstraktion als Manifestation des Gegebenen in seiner Ungewißheit zu einer existentiellen Notwendigkeit.
Das Undarstellbare wird zur elementaren Herausforderung der künstlerischen Erfahrungsgestaltung.

Das Undarstellbare ist Gegenstand einer Idee, für die sich kein Beispiel, kein Fall und auch kein Symbol zeigen (darstellen) läßt. Das Universum ist nicht darstellbar, auch die Menschheit nicht, das Ende der Geschichte, der Augenblick, der Raum, das Gute und so weiter. (...). Denn darstellen heißt relativieren, heißt in Zusammenhänge und unter Bedingungen der – in diesem Falle plastischen –Darstellung bringen. Das Absolute kann man also nicht darstellen. Man kann jedoch darstellen, daß es Absolutes gibt. (...). Und gerade in dieser Erfordernis indirekter, fast ungreifbarer Anspielung aufs Unsichtbare im Sichtbaren liegt der Ursprung der „abstrakten“ Malerei seit 1912 5.

Man hat die abstrakte Malerei, deren großer kultureller Erfolg darauf beruhte, diese Herausforderung am intensivsten anzunehmen, eine „Weltsprache“ genannt, und meinte damit ihren weltumspannenden Siegeszug durch die kulturellen Institutionen. Aber die Metapher war klüger als ihre Benutzer: als eine neue Weltsprache machte diese Malerei sich daran, die Welt visuell neu zu komponieren. Sie zeigte, was es heißt, keinerlei Besitz mehr vorzeigen zu können, und machte damit gleichzeitig die neuen Wirklichkeiten unter der Bedingung ihrer Ungewißheit in ihrer verstörenden Eigenart sichtbar.
Nach der Erfahrung der Versehrung, nach der Implosion der Selbstverständlichkeit, definierte sie damit eine Möglichkeit, der Grundherausforderung der Moderne, dem „Realisieren“, wie Cézanne es für die Malerei bestimmt hatte, weiter gerecht zu werden. Indem die Wahrnehmung einer nicht länger verbürgten Wirklichkeit aus der reinen Materialität der Farben heraus gestaltet wurde, konnte eigene Realität neu entstehen. Im Spiegel dieser Malerei, die nichts mehr zeigt, sondern nur noch ist, gewann eine Existenzerfahrung neuen Halt, die es kennzeichnet, das eigene Leben nicht mehr als Tatsache nehmen zu können, wenn es jederzeit und ohne verstehbare Gründe durch politische Willkür beliebig beendet werden kann.
Das Ende der totalitären Systeme hat diese Möglichkeit nicht beseitigt; sie bleibt eine jederzeit aktivierbare Option eines fragwürdigen Menschseins, das sich seine dunkelsten Seiten offenbart hat.
In den künstlerischen Exerzitien der Abstraktion begann ein überwältigtes Bewußtsein sich von dem historischen Kulturschock zu erholen, daß es Gewißheit, deren wichtigste die des eigenen Lebens und der eigenen Welt ist, nicht mehr gibt. Deshalb war es kein metierbedingtes verstiegenes Pathos eines Philosophen, als Jean-François Lyotard die Frage des Undarstellbaren, die den Kern der abstrakten Malerei bezeichnet, die einzige nannte, die im kommenden Jahrhundert den Einsatz von Leben und Denken lohnt 6.
Nach den Stabilisierungen der neuen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten in den 70er und 80er Jahren verblaßte diese Notwendigkeit und ließ diese Kunst hinter andere zurücktreten.
Die Künstlerbund-Ausstellung 1993 in Dresden präsentierte die abstrakte Malerei aus einer Perspektive der Bilanz. Mit dem Unterton des Erstaunens, daß es sie auch weiterhin noch in Formen von überzeugender Vitalität gab, schaute man zurück und bekannte sich mit verhaltener Zuversicht zu ihrer möglichen Zukunft. Mit Verwunderung mußte man feststellen, daß diese originäre Kunst der Behauptung in Untergängen ihre historische Zeit überdauert hatte und offenbar eine eigene Geschichte weiterer ästhetischer Entfaltung besitzt, die ihr Ende noch nicht erreichte.
Darüber, ob deren Potentiale ausgeschöpft sind, sollte man noch nicht befinden. Alles ist so lange unwahrscheinlich, bis es sich ereignet, und solange sich Neues nicht ereignet, läßt sich nicht wissen, was möglich ist.
Das Ende ihrer ästhetischen Geschichte ist so unabsehbar, daß die abstrakte Malerei in der Zeit unseres Jahrhundertwechsels und seiner Bilanzen als ein Anachronismus mit Zukunft erscheinen muß.
Umso mehr, als man sich verdeutlicht, daß die Erfahrung, die ihr historische Fälligkeit und damit scheinbar begrenzte Wirkung verschuf, selbst keine historisch eingrenzbare Erfahrung ist, sondern eine, die zu den Grunderfahrungen des Menschseins gehört.
Am Vorabend der großen historischen Erschütterungen hatte Wilhelm Worringer diesen anthropologischen Ursprung der Möglichkeit und mehr noch der Unvermeidlichkeit abstrakter Kunst bezeichnet, als er in ihr eine formale Reaktion auf eben solche menschliche Grunderfahrungen sah.
Uns Zeitgenossen neuer Instabilitäten in größtem Stil, die wir uns noch sträuben, anzuerkennen, daß unsere seit langem aufs neue selbstverständlich gewordene Welt auf Grundlagen beruht, die sich selbst immer mehr als unbegründet erweisen, müßte es einsichtig sein, daß die abstrakte Kunst als ein Medium individueller Weltvergewisserung „aktuell“ bleibt. Jedenfalls solange, wie es individuelle Ansprüche gibt.
Paradoxerweise liegt ihre zeitlose „Aktualität“ in eben dieser Stärke der Individualität. Sie ließ sie zur Repräsentantin einer historischen Situation werden, die von tiefgreifender kollektiver Verunsicherung beherrscht war: Repräsentant wird, wer ganz besonders ist, was alle sind, oder gerne wären. Die Zeit, die sich in ihr wiedererkannte, brachte sie nicht als künstlerische Möglichkeit hervor, sondern setzte sie in den Mittelpunkt ihrer kulturellen Selbstvergewisserung, weil sie genau der Kräfte bedurfte, die sie auszeichnen. Als eine ästhetische Option individueller Daseinsbehauptung gab es sie schon vorher und hat es sie seitdem gegeben. Ihre Renaissancen in den Kulturinstitutionen wird sie haben, wann immer eine Zeit vom Erlebnis der Ungewißheit geprägt sein wird.
Die Individualität wurde als Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, das sie ihren Nachfolgerinnen hinterließ, von Außenseitern, besonders von Künstlern realisiert, deren Existenzform die gesellschaftliche Funktion vorzeigbarer Lebendigkeit des Ideals besaß. Mit der Gesellschaft, die sich darin spiegelte, ist auch diese Funktion verschwunden. Damit verschwindet jedoch nicht Individualität; sie wird stattdessen nun als reine Individualität, die nicht auf geduldete Rollen festgelegt ist, möglich. Da sie kein orientierender Wert mehr ist, läßt sie sich uneingeschränkt realisieren. Ein Künstler, der keine Aufgabe mehr hat, verfügt zwar über noch geringeren Existenzrückhalt; aber nun kann er wirklich sein, was immer er will. Frei zu sich selbst geworden, steht ihm selbst nun allerdings auch keine Forderung an die Gesellschaft mehr zu, die von ihm nichts mehr verlangt.
Unserer Zeit eines beginnenden neuen Übergangs in neue Wirklichkeiten, die von einem heute kaum schon vorstellbaren Ausmaß sein werden, steht die Wiederentdeckung im Entstehen begriffener genuiner Künste bevor, die mit den Spektakeln des „Betriebssystems Kunst“, wie es sich die nun endgültig zur Disposition stehende Nachkriegsgesellschaft geschaffen hatte, nicht verwechselt werden dürfen.
Sie werden an der Fortentwicklung der ästhetischen Optionen arbeiten, die die innere Geschichte der Künste hervorgebracht hat.
Eine der vitalsten in der Malerei ist die abstrakte.


Malen – „danach“

Keine Spur von der Malweise verrät in den Bildern van Eycks ihre geschaffene Natur. Erst dem Blick unter dem Mikroskop offenbart sich die Hand des Malers. Das macht die augentäuschende Wirkung seiner Gemälde aus: sie sind so vollkommen, als wären sie gewachsen und nicht gemalt 7.

Mit van Eyck beginnt die Inbesitznahme der neu entdeckten Welt für den Menschen: sie zu malen, heißt, die Welt dem Menschen zueignen, der sie als Geschenk wahrzunehmen begann.
Aus dieser Aneignung hat die technische Zivilisation der Moderne eine vernutzende Inbesitznahme gemacht, in deren Zug das Geschenk das Gepräge eigener Leistung annahm und die Welt in ein Gepräge von Verfügbarkeiten verwandelte.
Ihre damit einhergehende Verfremdung der Welt, die auch als menschliche Leistung nicht aufhört, ihre Schrecken zu haben, zu denen die technischen Triumphe neue hinzufügen, hat das ursprüngliche Aneignungsmedium Malerei schließlich zu einem Medium der Rückverwandlung von Welt in Eigenleistung eines Individuums werden lassen, das sich auf seine Begabungen zur Wahrnehmung verläßt, um an Gewißheiten zu gewinnen, was eben möglich ist. Die Kultur, in denen die späten Kinder der Neuzeit ausschließlich leben, hat die Fremdheit der Natur weit überflügelt.
Das hat dazu geführt, daß die späte moderne Malerei, die an die neuzeitlichen Anfänge der Malerei anknüpft, deren ursprüngliches Ideal im fertigen Werk getilgter Individualität ins Gegenteil verkehrte und es nun darauf anlegt, aus dem Werk möglichst viele Spuren seines Urhebers hervortreten zu lassen. Die moderne Malerei, die auf die Erfahrungen des Menschen mit einer selbstgemachten Welt reagiert, wird zum Exerzitium individueller Spurenlegung. Die menschliche Eigenleistung Welt ist so fremd geworden, daß man möglichst viele Spuren, Details, Bruchstücke, Unwahrscheinlichkeiten aus ihr bergen muß, die dem Einzelnen versichern, als Einzelner an ihrem Besitz teilzuhaben: zeige dein Bruchstück, und du wirst wissen, ob du deinen Platz haben kannst.
Die Hand des Malers kann in seinen Bildern deshalb nicht unsichtbar sein. Wer es darauf anlegte, und die Techniken, derer es dazu bedürfte, wiedergefunden hätte, bezeugte nicht seine eigene, sondern eine gewesene Welt.

Ein avantgardistischer Maler fühlt sich zuerst der Frage gegenüber verpflichtet: Was ist Malerei? Der wesentliche Einsatz seiner Arbeit liegt darin, sehen zu lassen, daß es Unsichtbares im Sichtbaren gibt 8.


In die Expeditionen zur Aufspürung dieser Verborgenheiten hat sich die Individualität zurückgezogen, die keinen Besitz mehr herzeigen, sondern sich nur noch auf Suche begeben kann.


Zwei Praktiken

Die Ausstellung führt zwei Praktiken der ästhetischen Revolte abstrakter Malerei zusammen, die unter diesem historischen Horizont einander so verwandt sind wie vollkommen verschieden voneinander.
Sie repräsentieren zwei Optionen dieser malerischen Praxis einer späten Moderne, nach deren Möglichkeitserkundungen sich deren Geschichte differenziert: Farbwerdung von Form und Formwerdung von Farbe. Im Horizont der Anstrengungen einer in ihrer Möglichkeit erschütterten Individualität als menschlicher Existenzform.


Organische Architektonik: Rudolf Schoofs

Das bildnerische Denken Rudolf Schoofs’ nimmt seinen Ausgang auch in seiner Malerei von der Form. Ihrem Hauptverfahren nach ist sie auf eigentümliche Art „koloristisch“. Mit ihren Gestaltkräften „dient“ die Farbe den Formmöglichkeiten. Die formbildnerische eigene Potenz der Farbe bleibt von einer vorgängigen Formidee dominiert, der die Farbwerte sich unterordnen.
Es ist die Geste des Zeichners, die auch dem Maler die Hand führt.

Die List der Wahrnehmung als eine List der methodischen Vernunft, das „denkende Wesen“ – im Linienzug – ein wenig zu verdecken, um das „empfindende Wesen“ – im Farbschwung – zu veranlassen, ihm nähertretend dennoch zu begegnen. Man muß immer einen Gedanken im Hintergrund haben, meinte Pascal. Vielleicht könnte Rudolf Schoofs hinzusetzen, man müsse ihm zustimmen, wenn daraus zu folgern wäre, daß die Ideen letztlich unvermeidbar sind 9.

Es ist eine methodische Malerei, die immer darauf bedacht ist, in ihren Resultaten gestalterische Eindeutigkeit zuzulassen. Ihr Anziehungspol ist die Konstruktion. Aber als zu vermeidende, abzuschwächende Fixierung: umgekehrt spürt sie den Bewegungspotenzen des Konstruktiven nach. Es ist eine Malerei behutsamer Erschütterung.
In ihrer disziplinierten Wildheit, die ein grober, breit und flächig wie ein Spachtel geführter Pinsel kennzeichnet, kontrastiert sie der auf eindeutig bestimmte Klarheit der Strukturen und Formen angelegte Verhaltenheit der Zeichnungen, die ein Zeichenstift kennzeichnet, der erst über die Blätter geführt zu werden scheint, wenn der Weg, den er nehmen wird, absehbar ist und allzugroße Überraschungen auszuschließen sind. Nur ganz selten gewähren sie sich ein gedankenverlorenes organisches Auswuchern.
Aber beide Gesten erkunden als Gesten der Lebendigkeit unter den Bedingungen einer „technischen Existenz“ in der rationalen Zivilisation die Vitalität des Konstruktiven.

Tatsächlich besteht ja die ontologische Leistung der Technik wie auch der Kunst nicht nur in einer Weltvermehrung, sondern auch in einer Weltveränderung: das Gemachte stellt eine andere Perspektive der Wirklichkeit und des Daseins dar als das Gegebene, und noch jedes Bewußtsein, das auf ein Selbst reflektieren kann, war hochempfindlich gegenüber solch einer Veränderung, gegenüber dem Wechsel in der ontologischen Perspektive, die das Sein alles Seienden betrifft. Niemand wird leugnen können, daß dieser Horizont des Machens, fragt man nach seinem Sinn, zum Prinzip und zur Struktur des Selbstverständnisses gehört. „Comprendre, c’est fabriquer“, so lautete bereits ein bemerkenswerter Satz des siebzehnten Jahrhunderts. Und in dieser entscheidenden Verbindung von Machen und Verstehen wird es deutlich, daß die Welt, die uns nicht gegeben wird, wir uns selbst geben müssen, und daß die anwachsende Information nicht nur die ursprüngliche Dunkelheit des Objektiven, sondern auch die schöpferische Bodenlosigkeit unserer Subjektivität erhellt 10.

Schoofs Malerei macht das Unsichtbare des konstruierten Lebens sichtbar. Es ist die individuelle künstlerische Aneignung des zivilisatorisch „Gemachten“, und kein Aufbegehren gegen sie in Akten von Formverleugnung, was sie zu möglichen Gestalten auch individueller Lebensformen macht. Im symbiotischen Zusammenspiel von Malerei und Zeichnung, die jeweils im anderen verwirklichen, was ihnen selbst fehlt, worauf sie aber angewiesen sind, praktiziert Schoofs eine ästhetische Individualität, die auf subtile Weise gleichsam die vorgegebenen Großformen, die sich allen Existenzen überstülpen, mit eigenen Feinstrukturen ausstattet. Die Form ist gegeben, objektiv auf eine nicht zurechenbare Weise, so daß sie sich in ihrer Wirklichkeit nur hinnehmen läßt; ihre Ausfüllung aber, wie sie diese Malerei in ihren großen gestischen Zügen an den Feinformen dieser Zeichnungen vornimmt, gelingt die Setzung unverkennbarer Eigenart. Es ist diese Spannung, die Schoofs im Wechselspiel zwischen seiner Malerei und seiner Zeichenkunst austrägt.
Die Formen variieren zwischen solchen rein technischer Konstruktion und solchen organisch-tierischer Gestalt, die sich gerade noch voneinander unterscheiden lassen, erfaßt in dem Moment ihres Ineinanderübergehens.
Es ist der Moment unserer Zivilisation der Ver-Wandlung.

Vielleicht sind wir jetzt erst in ein Zeitalter eingetreten, in dem die Grenzlinien zwischen Kunst und Technik auf der einen und zwischen Technik und Natur auf der anderen Seite verwischt werden 11.

Die Wahrnehmung des Menschlichen wurde technomorph ebenso wie die Wahrnehmung des Technischen biomorph.

Auf den Festen der Wahrnehmung:
Werner Schriefers

Auf Form legt Werner Schriefers in seiner Malerei Wert nur als unkalkuliertem Resultat einer gelenkten Zufälligkeit in den Gesten seiner Farbmaterieerkundung.
Geistiger Fond dieser Malerei ist eine einverständige Komplizenschaft mit den durch keine Konstruktion bezähmbaren Strukturen des Lebendigen. Sie vertraut auf dessen eingeprägte Gestaltungsmöglichkeit. So kennt sie kein Scheitern. Höchstens eine mal nähere, mal fernere Annäherung an Möglichkeiten, die es nicht so sehr zu realisieren als zu erproben gilt.
Schriefers ist dem Sichtbaren im ungeordneten Erfahrungsfond durchorganisierter Existenz auf der Spur, die er über seine Leinwände zieht. Er vertraut auf den Eigenwert alles dessen, was dabei hervortritt, und von keiner Formerwartung in Regie genommen werden soll.

Die „Ideen“, die in der Konkreten Malerei, wie man sich ausdrückt, „konkretisiert“, also realisiert, werden, sind letztlich von der Natur einer Wahrnehmung. Immerhin eine Wahrnehmung, (...), nämlich der Farben oder der Farben-Form-Relationen. Es scheint, daß im ästhetischen Prozeß der Konkreten Malerei mindestens Farben als „eternal objects“ und nicht als „events“ visuelles Thema werden und daß Wahrnehmbares nur mit den Mitteln der Wahrnehmung – „wie es sich von sich selbst her zeigt“ – wahrnehmbar gemacht werden soll 12.

Nach dem delaunayschen „Orphismus“ der frühen Bilder, der in ihnen einen Wettstreit mit kleescher Formenstrenge ausfocht, begannen die Farben sich immer weiter zu emanzipieren, bis sie die ihnen auferlegten Formen sprengten, die nicht aus ihrer eigenen inneren Beweglichkeit mit Notwendigkeit hervorgegangen waren.
Damit einher ging die Ausbildung eines Momentes des Verdeckens, das die Bilder in eine nie wieder aufgegebene Spannung versetzte, die aus der Gleichzeitigkeit von Entdecken und Verbergen entsteht. Diese Spannung verlieh den Bildern eine neue eigene Tiefe. Über die Jahrzehnte hin vollzieht sich eine Art „geologischer“ Arbeit, in deren Verlauf die Bilder schließlich immer transparenter werden und Durchblicke in jene Tiefe gewähren, während sie früher Aufblicke auf oberste Schichten einer Wahrnehmung boten.
In der Festlichkeit der späten Pastelle ist diese Spannung ausbalanciert. Ihre Leuchtkraft gibt ihnen das Gepräge unmittelbar bevorstehender Offenbarungen: nur ein einziger Augenblick noch scheint auszustehen, und das ganze Glück wird eingetreten sein.
Von seinen Expeditionen in die Tiefen der Wahrnehmbarkeit hat Schriefers reiche Schätze heimgebracht. Aber er hat sie nicht hergezeigt, sondern im Verborgenen belassen. Das Spiel von Verbergen und Entdecken mündet in keine Enthüllungen: das Geheimnis bleibt gewahrt. Den Blick in die endlich gefundene und geöffnete Schatzkammer enthält er uns vor. Und entschädigt mit Farbpsychogrammen des Moments, in dem er seine Entdeckung machte.
Kein Finderstolz, der dazu drängt, den unwahrscheinlicherweise errungenen Besitz zu präsentieren. Was er aber zeigt, ist unvergleichlich

1 Paul Klee, Tagebuch III. München 1914-1915, Tagebücher 1898 - 1918, Textkritische Neuedition, Stuttgart-Teufen 1988, Nr. 951,365

2 Paul Claudel, Vom Wesen der holländischen Malerei,
Ffm 1954, 18

3 Zbigniew Herbert, Der Preis der Kunst, in: ders., Stilleben mit Kandare, Ffm 1994,29-54; 54

4 vgl. Andreas Steffens, Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen, Leipzig 1999

5 Jean-François Lyotard, Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit (1982), in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, 207-222; 218

6 a.a.O., 221

7 Anita Albus, Die Kunst der Künste, Erinnerungen an die Malerei, Ffm 1997, 68

8 Lyotard, a.a.O., 218

9 Max Bense, Dialektik zwischen Zeichnung und Malerei. Zu Arbeiten Rudolf Schoofs (1977), in: ders., Das Auge Epikurs. Indirektes über Malerei, Stuttgart 1979, 72-74; 74

10 Max Bense, Ästhetik und Zivilisation, Krefeld / Baden-Baden 1958, 14 f.

11 Max Bense, Ästhetik und Zivilisation, Krefeld / Baden-Baden 1958, 95

12 Max Bense, Ästhetik und Zivilisation, a.a.O., 88

13 Andreas Steffens, Von Menetekel zu Menetekel, in: Werner Schriefers zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1996, 21 f.