Text von Dr. Andreas Steffens
Ich war überglücklich, meine Sammlung wieder zu haben und sie endlich in meinem Palazzo aufhängen zu können.
Peggy Guggenheim
„Das muss ich Ihnen erzählen!“
Diesen Satz, oder einen ähnlichen gleichen Inhalts, hat jeder zu hören bekommen, der einmal von einem passionierten Sammler durch dessen Sammlung geführt worden ist.
Denn Sammler sind eigentlich Geschichtenerzähler. Sammeln ist ein Vorwand für Erzählungen. Die Emotionen, die Erinnerungen, die Wünsche, Begebenheiten, Erfolge und Misserfolge, kurz: Die Geschichten, die mit ihm verbunden sind, machen den wirklichen - und einzigen - Wert jedes Stückes jeder Sammlung aus.
Auf den Besitz kommt es nur wenigen Sammlern an; den meisten um so mehr darauf, davon berichten zu können, wie sie ihn erlangten.
Das Glück des Sammlers ist nicht das Besitzen. Es ist das Entdecken. So besteht eine Sammlung zwar aus einer Ansammlung von Fundstücken, welcher Art und welchen Genres auch immer, sie ist eine Versammlung von Gegenständen, von Materie; aber was sie ausmacht, haftet nur an den Gegenständen, es sind nicht sie selbst.
Ein beliebiger, irgendwo aufgelesen und einer Sammlung einverleibt, hat sich in das materielle Symbol eines im Leben seines Entdeckers wichtigen Augenblicks verwandelt: er ist zum wertvollen Gegenstand als Memorial dieses Augenblicks geworden. Eine Sammlung stellt die materiellen Medien von Erinnerungen an besondere Momente in der Geschichte einer Leidenschaft zusammen.
Gleich was einer sammelt, er sammelt immer Zeugen seiner Biografie. Deshalb sind Sammlern Besucher meistens willkommen. Sie geben Gelegenheit zur Erinnerung, zur Vergegenwärtigung dieses wirklichen Wertes alles dessen, was einer zusammengetragen hat.
Der Besucher läßt die Geschichten wieder lebendig werden. Und er wird sie zu hören bekommen. Da ist jedem nur zu wünschen, daß er an einen Sammler gerät, der sich auch aufs Erzählen versteht. (Oder, falls nicht, an einen, der nur eine kleine Sammlung herzuzeigen hat, oder zum großen Bericht gerade nicht aufgelegt ist.)
Erzählen heißt nicht nur, immer auch von sich zu sprechen. Handelt es sich um Erzählungen, in denen der Erzähler selbst vorkommt - und Sammler erzählen nur von sich selbst - , so heißt es, nach der Integration aller Erzählungen zu suchen, die es von einem geben kann: nach der eigenen Biografie.
Wenn eine Episode, ein kleines Stück aus dem Leben, erzählbar geworden ist, weil die einzelnen Erlebnisse selbst den Zug der Erzählbarkeit an sich haben und gleichsam darauf warten, Teil einer geschehenen und womöglich auch erzählten Geschichte werden zu dürfen, dann kann auch das Lebensganze geschichtlich werden, muß es vielleicht sogar. Die Teile fordern die Realisierung dessen, wozu sie disponiert sind: ihre Integration in ein abgeschlossenes Ganzes (1).
Der Sammler ist ein synthetischer Archäologe seiner eigenen Biografie vor der Zeit, indem er auf dem Weg durch sein Leben als sein eigener Archivar die ihm wesentlichen Bruchstücke und Zeugnisse zusammenführt, aus denen seine Biografie nach der Vollendung seines Lebens sich erschließen lassen wird.
Der Sammler umgibt sich mit Gegenständen, die für die Lebensmomente einstehen, die seine Biografie bilden. Zeigt er seine Sammlung her, so zeigt er sich selbst.
Je aufmerksamer sein Besucher sich im Zuhören beweist, desto enger wird dessen Beziehung zum Erzähler sich in der Folge gestalten können. Wer es nun versäumen sollte, auch bei dieser und jener Wendung des Berichtes zwar diskret, aber nachdrücklich einzuhaken und interessiert nachzufragen, dessen Sympathiewert wird sogleich wieder erheblich sinken.
Sammler umgeben sich gerne mit Menschen, die ihrer Leidenschaft nützlich sein können. Danach prüfen sie neue Beziehungen. Und schlagen sie aus, wenn sie sich in dieser Hinsicht als tumb erweisen. Man muß ihre Leidenschaft nicht aktiv teilen, das wäre gar nicht erwünscht, bedeutete es doch Konkurrenz im Jagdrevier; aber durch tätiges Interesse beglaubigen.
Wer sammelt, ist unterwegs. Immer. Man kann es nicht zu Hause. Denn Sammeln heißt, in den Räumen der Welt Verstreutes zusammentragen: Vieles, was vorher zerstreut war, wird so bewegt, daß es nachher beisammen ist (2).
Und es ist ganz gleich, womit er gerade beschäftigt ist Ergibt sich eine Verbindung, bietet sich eine Spur hin zu einem Objekt, das in die Sammlung gehört, so wird der Sammler ihr immer nachgehen, im Extremfall jede ihn gerade leitende Pflicht außer Acht lassend. Es gibt Sammler, die nur dort ihren Geschäften nachgehen, wo sich auch Gelegenheiten zur Pirsch finden lassen.
Sammeln war einmal lebensnotwendig. Auf Nahrungssuche zu gehen und alles einzusammeln, was die Natur in einem bestimmten Umkreis um die ersten primitiven Behausungen, Höhlen und Hütten, herum hergab, und sich nur halbwegs als eßbar erwies, war die Grundtätigkeit unserer Urvorfahren zur Bedürfnisbefriedigung, bevor sie die erste große Kulturschwelle in der Menschheitsentwicklung erreichten, und sie überschritten, indem sie den Ackerbau erfanden.
Sammeln ist eine menschliche Urtätigkeit. Seine Herkunft aus der Beschaffung rarer Lebensmittel hat sich darin erhalten, daß Gegenstand des Sammelns immer Besonderes, Wertvolles, Seltenes, Luxuriöses ist, oder daß etwas dadurch, daß es gesammelt wird, seine Auszeichnung als Besonderheit erfährt.
Sammler sind in diesem Sinne ‘primitive’ Menschen: sie kultivieren eine Leidenschaft immer wieder aufs neue, ohne die es eine Menschheit nie gegeben hätte. Sie bewähren ein menschliches Urvermögen, das auch in unserer späten Kultur lebendig bleiben muß, soll sie ihre Grundaufgabe weiter erfüllen können, Menschen das zu verschaffen, dessen sie zum Leben bedürfen.
Und das ist nie das, was die physisch-biologischen Grundbedürfnisse, Essen, Trinken, Schlafen, Fortpflanzung, erfüllt. Der erlebbare Wert des Lebens, das den Willen zu seiner Fortsetzung aufrechterhält, liegt immer jenseits der Grundbedürfnisse. Deren Erfüllung ist vorausgesetzt. Wo sie problematisch oder sogar unmöglich wird, ist das Leben sinnlos. Jede Anstrengung zu ihrer Gewährleistung hat die Aufhebung dieser Sinnlosigkeit zum Ziel. Überspitzt gesagt: Nicht die Armut ist unmenschlich, sondern daß sie einen davon abhält, sich um das zu kümmern, wofür er sein Leben hat.
Es bleibt sinnlos, wenn es nicht gelingt, Denken, Empfinden und Handeln Ziele zu geben, die jenseits der Bedürfnisbefriedigung liegen. Welche es sind, ist ganz gleichgültig. Wenn sie sich nur bilden.
Es kann noch so beschwerlich sein, es bleibt sinnvoll, solange einer die Kraft aufbringt, sich mit Leidenschaft um Dinge zu kümmern, die nur für ihn Wert besitzen. Denn in diesem Wert versammeln sich alle Fähigkeiten eines Menschen, die ihm gestatten, ein wertvolles Mitglied einer Gemeinschaft zu sein. Das Individuum ist nicht der Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Voraussetzung ihres Funktionierens.
Auf diese Personengebundenheit kommt alles an. Den Wert eines Stücks in einer Sammlung bestimmt die intim-persönliche Beziehung, die sein Besitzer zu ihm hat. Sein Wert erfüllt sich in der Bereicherung der Person, die es durch Bestätigung, durch Stimulanz, durch emotionale Aktivierung leistet. Und wenn es nur der triviale Stolz ist, sich dies alles ‘leisten zu können’. Für den wahren Sammler aber spielt das keine Rolle, denn für ihn steht ganz außer Frage, daß er sich auch leisten kann, was er haben ‘muß’, denn immer handelt es sich um ein Müssen, um ein unabweisbares Bedürfnis jenseits der elementaren Bedürftigkeit. Und wenn die Mittel, es zu erwerben, nicht vorhanden sind, werden sie beschafft werden, ganz fraglos und in unerschütterlicher Selbstverständlichkeit, so, wie eine Leidenschaft sich ihre Wirklichkeiten schafft, in denen sie sich erfüllen kann.
Der Ursprung der modernen Sammlung in den adligen Kuriositätenkabinetten des Barock erinnert an den Ursprung des Sammelns in der menschlichen Eigenschaft der Neugierde. Der Trieb, Seltsamkeiten anzuhäufen, folgte dem erst allmählich zu Bewußtsein gekommenen Impuls, etwas zu erfahren, was noch unbekannt war. Die Sammlung steht ein für die Entdeckung, daß es ein Lebenswert ist, sich darum zu bemühen, etwas in Erfahrung zu bringen, was noch nicht gewußt wurde. Die versammelten Gegenstände repräsentieren ein Wissen, dessen Aneignung das eigene Leben erweitert, indem es seinen Erfahrungshorizont ausdehnt.
So gehorcht jede Sammeltätigkeit einem nur dieser Person, die ihr nachgeht, eigenen Trieb, über den sie sich selbst oft gar keine Rechenschaft geben könnte, der einfach da ist, wie man seine Nase hat und die Ohren nun einmal geformt sind, wie sie sind, ohne daß man darüber nachdächte. Es ist da, es wirkt, und man folgt.
Der Sammler nimmt die Sprache beim Wort und ‘bringt in Erfahrung’, in seinen Erfahrungsraum, was an den Dingen haftet, die er um sich versammelt.
Wie die Werkzeuge die Reichweite und Gestaltungskraft der Hände erweitern, so erweitern die Kunstwerke als materielle Dokumente der Wahrnehmungsverarbeitung einer besonderen Individualität den Erfahrungshorizont ihrer Betrachter und Besitzer.
Mehr noch als in ihrer exemplarischen Auszeichnung durch den Wert des ‘Sehenswerten’ (3) macht dieses Motiv das Zusammentragen einer Kunstsammlung zur höchsten Form des Sammelns. "Was Sammeln seinem Wesen nach ist, zeigt sich nicht am Anfang, sondern am Ende, nicht am ökonomischen ‘gathering’ von Nahrungsmitteln, die wir zum Leben brauchen, sondern im ästhetischen ’collecting’ von Kunstwerken, die wir betrachten wollen. Wie diese die Anschauungs-, Ausstellungs- und Sammelgegenstände schlechthin sind, so ist der Kunstsammler das Urbild des Sammlers, der Prototyp des ‘homo collector’. Kunstsammeln ist Sammeln in seiner reinsten und höchsten Form: Sammeln par excellence"(4).
Sich Kunstwerke als Medien einer eigenen Wahrnehmungserweiterung zu verschaffen, ist das fruchtbarste Sammelmotiv des Besitzenwollens. Diesen Willen zu verwirklichen, im Extremfall um jeden Preis - ‘Sammlerpreise’ sind immer imaginär, willkürlich und ohne Bezug zum materiellen Wert des betreffenden Objekts; sind Strafen einer unverständigen Umwelt, die sie einer ihr unverständlichen Leidenschaft dadurch auferlegt, daß sie sie zu eigenem Vorteil ausnutzt - , bringt die Sammlung hervor. Da er immer bereit ist, jeden Preis für das zu zahlen, was er haben muß, legt der Sammler es immer darauf an, es so billig wie möglich zu bekommen: seine eigene Wertschätzung findet sich desto intensiver bestätigt, je geringer der Vorbesitzer dessen, was er im Begriff ist zu erwerben, es achtet.
Nur für den Sammler gilt buchstäblich: Geld spielt keine Rolle. Deshalb kann kein Sammler genug von ihm haben. Es ist unbedingt erforderlich für die Überwindung jenes Widerstandes, ohne die ein entdecktes Stück, das in die Sammlung gehört, keinen Eingang in sie finden darf. Nichts ist für den Sammler so wertlos wie das Stück, das seine Sammlung krönen sollte, das er nicht selbst findet und jeden Widerstand überwindend an sich bringt, sondern geschenkt bekommt. Er wird es annehmen, und ihm in der Sammlung seinen Platz geben. Aber es ist nur noch ein Platzeinräumen, ein schon unwilliges Dulden, und bald wird er das so lange begehrte Objekt mit Verachtung strafen. Er wird es schließlich dafür hassen, daß es sich ihm verweigert hat, indem es sich nicht von ihm, sondern einem anderen finden ließ, der es ihm zuführte.
Aus dem Motiv der Selbsterweiterung, zu dem die ziellose Neugierde kultiviert wurde, stammt auch die für jede Sammeltätigkeit charakteristische Dynamik. Sammeln ist eine prinzipiell unabschließbare Tätigkeit. Sammeln heißt, zu dem, was schon gefunden wurde, immer noch ein weiteres Stück desselben dazu haben zu wollen. Die unendliche Variationsvielfalt des Selben ist die eigentliche Herausforderung des Sammlers. Er will wissen, welche Varianten es von dem, was ihn fasziniert, geben kann. Ist sie durch die Natur seines Sammelgebietes begrenzt, wendet er alles daran, Vollständigkeit zu erreichen - in der Hoffnung, eines Tages auf ein Stück zu treffen, dessen Existenz unbekannt war. So sind in den grafischen Kunstsammlungen die Stücke die wertvollsten, die kein Werkverzeichnis kennt.
Der Sammler will finden, was es nicht gibt. Denn er sucht in jedem Fund, was ihm ebenso wie allen anderen auch am unbekanntesten ist: sich. Indem er das ihm Wertvolle um sich versammelt, sammelt er sich zu sich selbst. Gelingt ihm das, ist er der glücklichste Mensch.
So erweist das (Kunst-) Sammeln sich als die vernünftigste aller Leidenschaften.