Hans Reichel

Musician, Composer, Designer, Inventor

1949 in Hagen geboren
2011 in Wuppertal verstorben

Hans Reichel erhielt 1999 den Kunst-Preis der Stadtsparkasse Wuppertal.

... You´ve never heard a guitar sound like Hans Reichel´s. Period.
Reichel is more than just a brilliant player. He has reconceptualized the instrument itself, opening up entirely new sonic possibilities.

• Guitar Player magazine, USA ´89

... Einer der interessantesten Avantgarde-Gitarristen ist er, als Insider-Tip allenfalls vergleichbar mit Frith, Fripp, Eno. Der Wuppertaler, pendelt zwischen dort, New York und Tokyo, ist unvermindert gefragt als Partner so ziemlich aller Größen, die seit dem Aufbruch im Bereich Free/Jazz/Avantgarde/Rock bekannt geworden sind – ein musician´s musician also?
Auch. Vor allem aber der konsequent-einwillige Tüftlertyp, dessen bisheriges Extrem das von ihm so genannte Daxophon darstellt,
damit ungeahnte Klänge erzeugend: bizarr, humoresk, fremd und eigenartig menschlich.

• Artist, Wiesbaden ´91

... An orginal and an offbeat entertainer, Reichel more than repays a little initial effort. t The Penguin Guide to Jazz, England ´92

... der vielleicht überzeugendste, allemal faszinierendste und nachdrücklich eindruckvollste Gitarrenmeister der neuesten Musiksprache.

• Jazzgitarristen, Oreos Verlag ´92

... Reichel´s differently shaped daxophones have voices which range from angelic to flatulent,
from the primordial breaths of the didgeridoo to the coloratura runs of a soprano singer. He utilizes the instrument´s range brilliantly,
orchestrating jazz vamps and doo-wop workouts despite the fact that the daxophone is moody, stubborn and very sensitive to changes in the weather.

• Option magazine, USA ´94

... (Shanghaied on Tor Road) is a crowning achievement for the German guitarist, luthier, improviser: stylistically varied, sonically outrageous. (...)
A record destined to be a classic. Every home should have two.

• Rubberneck, England ´93

... Fragile, passionate, quietly intense and of a restless virtuosity, it is a wonderful piece of work and one that can speak to a far broader audience than devotees of improvisation. (...) But, as the invention of the daxophone (...) has revealed, Hans is nothing if not a rare bird, happily still with us and going from strength to strength.

• Fred Frith about The Death of the Rare Bird Ymir (CD liner notes)

... The voices seem to belong to characters from the zany cartoons of the ´40s and ´50s. Irritable, conceited, inane, bluffing, bloated – the ingredients that warrant
enjoyment.

• Experimental Musical Instruments, USA ´96

 

 

Wie alle bedeutenden Künstler schafft Hans Reichel etwas, das sich nicht mehr in die bereits bestehenden Denk-raster oder Katalogschemata einordnen läßt. Die von ihm eingebrachten Sounds erweisen sich zu anders-, zu eigenartig, als daß man sie mit bestehenden Stilkategorien beschreiben könnte. Hans Reichels Klänge erweitern unsere ästhetischen Erfahrungen und stellen zugleich unsere oft stereotypen Wahrnehmungsmuster in Frage.

Ist das freie Improvisationsmusik, Avantgarde-Rock, meditative Klangproduktion, originär verfremdete Trivialmusik, kühne, gleichwohl weitgehend handgemachte Techno-Vision, Innovative Pop-Musik, imaginäre Folklore, Neue Musik? Offensichtlich nichts dergleichen und doch von allem etwas, aber eben keine Mixtur, keine Fusion auf kleinstem gemeinsamen Nenner.

In Wuppertal ansässig und mit vielen seiner Produktionen auf dem Plattenlabel FMP präsent, lag es – oberflächlich betrachtet – nahe, Hans Reichel mit dem Free Jazz Wuppertaler Prägung in Verbindung zu bringen. Doch bereits die Soloeinspielungen des Gitarristen aus den frühen siebziger Jahren verweisen auf eine ganz andere Klangästhetik. In unzulässiger Verknappung ließe sich formulieren, daß es ihm nicht darum ging, im Prozeß der Negation, der Zerstörung musikalischer Konventionen, einen neuen Ansatz zu finden. Er setzt stärker darauf, aus der eigenen Spielpraxis und aus der eigenen Phantasie zu schöpfen, Vorhandenes völlig unbefangen, beinahe naiv zu sichten und all das auf eine oft ungewöhnlich komplexe Weise miteinander zu verbinden, übereinander zu schichten. Freilich war und ist ihm die Praxis der Improvisation dabei stets wichtig gewesen – als Methode, um neues Material zu generieren, wie auch als Medium für den assoziativen Spielfluß des Solisten und die Zusammenarbeit mit anderen, gleichfalls ungewöhnliche Wege beschreitenden Musikern.

Hans Reichel, dessen Klänge überwiegend dem eigenen Spielprozeß entspringen, verkörperte die Personalunion von Komponist bzw. Instant Composer, Improvisator und Interpret. Bei ihm kommt den instrumentalen Techniken und dem Instrument selbst eine viel größere Bedeutung zu als bei Musikern, die Werke anderer interpretieren. Es geht bei seinem Spiel eben nicht um einen „neutralen“, einen austauschbaren Klang, sondern eben gerade um das, was ihn von anderen unterscheidet. Beinahe mustergültig läßt sich im Schaffen von Hans Reichel verfolgen, wie er für die ihm jeweils vorschwebenden Klänge die geeigneten Spieltechniken und schließlich auch die adäquaten Instrumente gefunden, erfunden, entwickelt hat.

All das beginnt mit der frühen, nicht dem Unterrichtsideal entsprechenden Annäherung an die Violine, eine Ikone der europäischen Musiktradition. Wie Hans Reichel mit der Geige umgeht und im Duo mit einem ähnlich vorurteilsfreien Musiker, dem Akkordeon und Concertina spielenden Rüdiger Carl, zusammenfindet, kann man auf einem Album nachhören, das Kindheitserinnerungen beschwört und zugleich auf Kommendes, Unerwartetes hindeutet. Hans Reichels „unorthodoxe“ Instrumentalbehandlung beginnt mit ungewöhnlichen Fingersätzen und „Handhabungen“ von Gitarren, führt weiter über das Verändern von Gitarrenkonstruktionen und eigenwillig installierten Tonabnehmern zum Bau völlig neuer Gitarrentypen und zu einer Instrumentenfamilie, für die sich Hans Reichel ein Copyright in der Musikgeschichte eintragen lassen kann: die Daxophone. Die mit einem Bogen zum Klingen gebrachten Holzzungen offenbaren frappierende Ähnlichkeiten zu Menschen- oder Tierstimmen wie auch zur Expressivität, die Jazzmusiker auf Blasinstrumenten erzeugen. Doch letztlich geht es nicht um die Assoziation zu den Schreien eines Dachs, schon gar nicht um die Imitation eines Saxophons. Es geht um die Hans Reichel gemäße Klang- und Ausdruckswelt. Ihn als Bastler oder Tüftler darzustellen, verkürzt seine Intentionen auf den technischen Aspekt, auf einen Teilaspekt seines – Instrument, Spielweise, Vokabular und Vision – integrierenden Schaffens. Auf der Reise in das Innenleben der Sounds entdeckt der Gitarren- und Daxophone Spielende selten gehörte Schönheiten jenseits der abgegriffenen Gefälligkeiten. Auch das macht Hans Reichel besonders: Er hat keine Scheu vor dem, was in- und außerhalb des Ungeahnten und Unerwarteten populär klingen könnte. Auch wenn er nie nach dem Publikum schielt, so impliziert seine Musik doch Adressaten, die die Scheuklappen bzw. die Ohrstöpsel abgelegt haben und neugierig darauf sind, sich auf neue Klangwelten einzulassen.

Hans Reichel bewies selten anzutreffende Langzeitenergien. Das schafft wohl nur ein Musiker, der von dem was er tut, auf eine subtile Weise besessen ist. Er war längst ein „musicians’ musician“, einer auf den vor allem die Eingeweihten aufmerksam wurden, bevor er öffentliche Anerkennung erfuhr. Koryphäen der improvisierten Musik wie Derek Bailey oder John Zorn ließen sich von Hans Reichel inspirieren. Wenn er in New York spielt, sitzen ab und an Rockstars im Publikum. In Tokio wird er als Kultfigur gefeiert, spielt er vor ausverkauften Häusern. Der Kollege und gleichfalls als Innovator auf der Gitarre gefeierte Fred Frith schrieb zu einem der Solo-Alben von Hans Reichel: „Während der letzten zwanzig Jahre hat er leise die Gitarre revolutioniert, während der größte Teil der Musikwelt in eine andere Richtung blickte.“

Der Komponist und Improvisator Hans Reichel begegnet uns als der geborene Solist, der sich freilich auch mit Hilfe des Multitrack-Verfahrens zu Daxophon-Orchestern vervielfacht. Wie wunderbar, wenn sich all das mit anderen potenzieren läßt. Mit Musikern wie dem Cellisten Tom Cora, Saxophonisten wie John Zorn oder Peter Brötzmann, mit dem Schlagzeug und vieles andere spielenden Eroc, mit Pianisten wie Keith Tippett, Vokalisten wie Phil Minton, Gitarristen wie Wädi Gysi, Fred Frith, Kazuhisa Uchihashi oder René Lussier. Oder denken wir an die Gruppe „X-Communication“ um den Kornettisten Butch Morris, an die „September Band“ mit Shelley Hirsch, Rüdiger Carl und Paul Lovens ... Oder an das weltberühmte Kronos Quartet, das sich anläßlich der Wuppertaler Talklänge von den Streichinstrumenten verabschiedete und gemeinsam mit Hans Reichel eine seiner Kompositionen auf den von ihm erfundenen Daxophonen zum Klingen brachte.

Hans Reichel hat sich nie mit dem Modischen, dem Lauten, dem Spektakulären verbündet, immer auf sich selbst gestellt, beinahe zurückgezogen geforscht, geübt und gespielt. Zu dem, was an ihm fasziniert, zählt nicht zuletzt die Bescheidenheit, mit der er seine individuell ausgeformten Sounds in die Welt zu setzen weiß. So, als ob das eben nur eine von vielen, vielleicht nicht einmal eine notwendig zu leistende Arbeit wäre. Dabei ist es doch etwas, das uns leise zu berühren, über den Moment hinaus zu faszinieren und nachhaltig zu erschüttern weiß.

Dr. Bert Noglik, 1999

 

 

Ist Hans Reichels erstes Album wirklich schon 1973 erschienen? Kaum zu glauben! (Wie die Zeit vergeht, wenn das Leben Spaß macht ...) Was uns geradewegs zu einer (vielleicht) banalen, aber durchaus angemessenen Frage bringt: Wie viele Künstler, deren Arbeit wir damals schätzten, sind heute noch aktiv? Und wie viele von ihnen schaffen es, ihren damaligen Standard nicht nur zu halten, sondern auch noch zu verbessern? (Zugegeben – „verbessern“ ist im Fall von Hans Reichel vielleicht keine glückliche Wahl, aber für’s erste können wir uns trotzdem mit diesem Wort begnügen.) Bei jedem neuen Album, das er – wie immer ohne jede Eile – produziert, dürfen wir getrost auf gewisse Qualitäten rechnen. Neben der vorhersagbaren Unvorhersagbarkeit der „Form“ zeichnet sich seine Arbeit durch Intelligenz, liebevolle Sorgfalt und klarsichtige Leidenschaft aus. Und durch kompromißlose Ehrlichkeit. Denn eins dürfen wir hier auf keinen Fall vergessen: Reichel ist alles andere als „smart“ – überlegen Sie nur für einen Augenblick, wie leicht es für ihn gewesen wäre, seine wunderschönen Instrumente zu mißbrauchen, um damit das schnelle Geld zu machen. Nicht auszudenken ... In einer Welt, die nur noch minimale Konzentrationsspannen kennt, die billige Effekte und Gimmicks liebt, hat er uns regelmäßig mit Qualität bedient. Und das ist ihm Mal für Mal auf’s Neue gelungen.
Reichels Musik ist reich, tief und geheimnisvoll; sie ist vielfältig und komplex, ohne „schwierig“ zu sein; sie ist schön, ohne je „nett“ zu wirken. Mitunter kommt sie humorvoll daher, dann ist sie wieder von unglaublicher Traurigkeit erfüllt. Sie ist wie das Leben. Ihr Klang ist ohne Frage einzigartig. Vor allem aber ist sie melodisch: Welcher Klangquellen er sich auch bedient – Reichel ist einer der originellsten (und markantesten) Erfinder von Melodien. Dabei spielt es keine Rolle, ob er seine Melodien improvisiert, konventionell komponiert oder per Computer und Software erstellt. Sie tragen allesamt seine ganz persönliche Handschrift. (Ich kann diese Szene förmlich vor mir sehen – ein Paar beim Lösen eines Kreuzworträtsels, irgendwann in der Zukunft. Er: „Bedeutender europäischer Melodiker des späten 20. Jahrhunderts mit elf Buchstaben. Wer mag das sein?“ Sie: „Aber Liebling, natürlich Hans Reichel!“) Doch trotz dieser ausgesprochen persönlichen Note bedient sich Reichel auch aus einer reichen Tradition. Nachklänge von Volksliedern sind hier zu hören, Walzer, Gamelan-Musik, Blues und Klangabenteuer à la Jimi Hendrix (letztere freilich ohne die typischen „Hendrix-Licks“). Dazu kommen noch die umwerfenden Rubati und eine Stille, die mich immer an Monk denken läßt (in ein paar Takten von Reichel steckt in der Tat mehr Monk als in ein paar Tonnen exakt, aber unambitioniert eingespielten Monk-Stücken). War dieser Zug schon auf seinem zweiten Album Bonobo (‘75) deutlich spürbar, so dürfte Reichel mit The Death of the Rare Bird Ymir (‘79) endgültig zu seiner unverkennbaren Art gefunden haben, Melodien zu erkunden. Dieses Album ist ohne Frage sein erstes Meisterwerk; Reichels Umgang mit der akustischen „Full-Fret“-Gitarre macht unmißverständlich klar, daß wir es hier mit einem Musiker zu tun haben, der sich in keine Schubladen stecken lassen will. Er zog es damals schon vor, seiner eigenen Muse zu folgen und selbst beim Improvisieren nicht auf das Erkunden melodischer Motive zu verzichten. Auf die Hörerschaft muß diese Musik seinerzeit merkwürdig „traditionell“ gewirkt haben; angesichts des vorherrschenden Klimas in der Improvisationsszene jener Tage glaube ich kaum, daß man sie dort richtig verstanden oder gar geschätzt haben dürfte. (Gut, ich gebe zu: das ist nur eine Vermutung.)

Hans Reichel läßt auf der Gitarre komplexe und subtile Klänge entstehen, die einen angemessenen Raum brauchen, um zu atmen und sich zu entfalten; daß diese Klänge im massiven Sound eines großen Line-Up unterzugehen drohen, liegt auf der Hand. Wer nun aber glaubt, seine Soloarbeit läge mit ihrer Stille und ihrer meditativen Qualität auf der Linie von New-Age-Musik, dürfte sich wohl kaum je „richtige“ New-Age-Musik angehört haben. Außerdem würde eine solche Einschätzung dem Spektrum von Reichels klanglichen Möglichkeiten absolut nicht gerecht: Wenn ihm danach ist, kann er durchaus auch klagen, heulen oder sich in unser Hirn sägen. Hören Sie nur einmal sein Solo in Old Bones an – dem ersten Stück auf The Return of Onkel Boskopp (‘97). Wie wandlungsfähig Reichel ist, zeigt schon die Liste der Musiker, mit denen er im Lauf der Jahre gespielt hat: Mit Namen wie Tom Cora, Wädi Gysi, Fred Frith, Uchihashi Kazuhisa und René Lussier kommen hier Charaktere zusammen, die kaum unterschiedlicher sein könnten.

Über den Gitarristen und Gitarrenerfinder ist schon vieles gesagt worden. Wir wissen, daß ein Freund in den frühen 70ern einmal eine billige Sperrholzgitarre bei ihm zuhause liegen ließ, daß er sie auseinanderbaute, daß die Dinge von da an ihren Fortgang nahmen. In der Tradition eines Les Paul oder eines Leo Fender hat Reichel sich gegen den Trend im Gitarrenbau gestellt. Er ist nicht darauf aus, die Eigenheiten dieses Instruments zu „glätten“ und Gitarren zu entwickeln, die vorhersagbar ansprechen und leicht spielbar sind. Seine Instrumente transportieren in all ihrer Eigentümlichkeit die Identität des Spielers, ohne in sie einzugreifen oder ihr – im Gegensatz zu den vor zwanzig Jahren allseits beliebten Gitarrensynthesizern – irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen. Ich glaube allerdings nicht, daß es richtig wäre, eine Parallele zwischen der Entwicklung von Reichels Musik und den von ihm gebauten Instrumenten zu ziehen. Eine Ausnahme macht hier vielleicht das Daxophon – aber selbst da bin ich mir nicht völlig sicher. Was ich meine, ist folgendes: Seine Gitarren haben sich zwar über die Jahre hin gewandelt, und Reichel hat die Möglichkeiten jedes neuen Instruments immer wieder neu ausgelotet. Doch das musikalische Vokabular, das er dabei entwickelte, ergab sich eher aus klanglichen Qualitäten, die hier schon im voraus angelegt waren. Aus genau diesem Grund habe ich auch eingangs gesagt, „verbessern“ wäre kein guter Begriff, um Reichels Arbeit zu erfassen. Hören Sie sich nur einige seiner noch erhältlichen Aufnahmen an. Ob wir Bonobo Beach (‘81), The Dawn of Dachsman (‘87), Coco Bolo Nights (‘88) oder Lower Lurum (‘94) nehmen: Diese Arbeiten haben ihren einzigartigen Zauber; auf merkwürdige Art bewahren sie eine Frische, der die Zeit offenbar nichts anhaben kann.

Vor ein paar Monaten besuchten mich zwei junge Männer; beide Mitte Zwanzig und total auf die Musik eingeschworen, die man gemeinhin als „modern“ bezeichnet. Ich spielte ihnen Dachsman Meets the Blues vor. Das ist eins meiner Lieblingsstücke von Reichel; in einer Rezension habe ich einmal behauptet, es würde „so voller Opium stecken, daß man den Konsum eigentlich verbieten müßte“. Die erste Reaktion: „Wer zum Teufel ist das?“ Dann: „Warum hab’ ich von dem Mann noch nie was gehört?“ (Darüber könnte ich freilich ein dickes Buch schreiben, aber mit Rücksicht auf die Bäume lasse ich das lieber bleiben.) Und schließlich: „Der spielt ja, was er will. Um Konventionen schert der sich einen ...“ Meine persönliche Moral von der Geschichte: Das liegt eben daran, daß er sich immer darum bemüht, keinen Abklatsch abzuliefern.
Womit wir bei seinem unglaublichsten Meisterstück angekommen wären: beim Daxophon. Schöne Daxophon-Stücke finden sich zwar auf einer ganzen Reihe von Alben, aber die Krönung ist ganz ohne Frage Shanghaied on Tor Road (‘92). Diese Arbeit ist wirklich höllenmäßig komisch, ohne daß Reichel dabei zu irgendwelchen Tricks oder Gimmicks gegriffen hätte. Damit offenbart es zugleich Züge seiner Ästhetik, die sich auf den älteren Aufnahmen weniger erschließen – vor allem seinen Sinn für Humor. (Vielleicht ist es ja nur Einbildung, aber die „Doo-Woop“-Passagen erinnern mich doch sehr an Frank Zappa aus der Zeit von Ruben & the Jets.) In einer vollkommenen Welt würde Shanghaied on the Road unter jedem Weihnachtsbaum liegen und dem Komponisten ein großzügiges finanzielles Polster sichern. Aber die Welt ist nun einmal, wie sie ist. Und wir müssen uns folglich damit begnügen, in Shanghaied on Tor Road eine schimmernde Perle zu sehen, die einem der originellsten Wegbereiter der modernen Musik die Krone ziert.

(Während ich dies hier schreibe, fällt mir eine alte Geschichte über selbstgebackenes Brot und Supermarkt-Brot ein. Wer sein Brot selber bäckt, hat mit einigen Tücken zu kämpfen, und das Ergebnis ist nicht immer so, wie man es sich gewünscht hätte. Das Brot aus dem Supermarkt ist dagegen jederzeit verfügbar, praktischerweise in Scheiben geschnitten und zeichnet sich sogar durch einen gewissen Nährwert aus. Außerdem ist es so billig, daß man sich fragen muß, ob die Mühe des Selberbackens wirklich lohnt. „Doch wer jemals selbstgebackenes Brot gekostet hat,“ so endet die Geschichte, „kennt die Antwort genau.“ Und genau darum ging es mir hier.)

Giuseppe Colli, Catania, 1998


Übersetzung: Frank Kuhnke

 

 

(dieser Text erschien als Liner Notes zu der CD
„Shanghaied on Tor Road“,
the world’s 1st operetta
performed on nothing but the daxophone)


Das Daxophon ist klein. Als ich vor Jahren anfing, es bei Konzerten einzusetzen (neben meinem „normalen“ Gitarrenkram), mutmaßten viele Leute, ich wolle auf der Bühne ein Feuer machen, wegen der weißen Colophoniumwolken, die im Scheinwerferlicht besonders ins Auge fallen. Ansonsten war ja auch nicht so viel zu sehen – ein Cellobogen in der rechten Hand, ein flaches Stück Holz in der linken, und ein schmales, dünnes Brettchen, per Schraubzwinge an einer Tischkante oder an einem Barhocker festgeklemmt.

Dem näheren Betrachter fiel normalerweise sofort eine Ähnlichkeit mit irgendwelchen Küchenwerkzeugen auf: Tortenheber, Bratkartoffelwender, Kochlöffel. Das ist auch kein Wunder — mein erstes Spielzeug dieser Art war in der Tat ein echtes deutsches Erbsensuppenumrührding. Oder andersrum: in jedem normalen Haushalt wird wahrscheinlich ungewußt/ungewollt ein Daxophon schlummern.

Laut war es von Anfang an. Obwohl ein rein „akustisches“ Gerät, läßt es sich mit einem einfachen Kontakt-Mikrophon problemlos auf Ohrenkiller verstärken. Ein entnervter kalifornischer Rezensent schrieb mal, er fühlte sich an gefolterte Maulesel und Affen und Geflügel erinnert (Tierversuche), und das ganze Ding sei eigentlich nur ärgerlich wie der bellende Hund des Nachbarn.

Die Idee, dieses Marterwerkzeug einmal vielstimmig in Studio-Mehrspurtechnik aufzunehmen, stammt von meinem kanadischen Freund und Gitarristen René Lussier. Wir hatten erstmals 1990 mehrstimmig gedaxt (auf dem New Music America Festival in Montreal), zusammen mit Claude Simard, als drittem Daxmann, und den drei Cellistinnen Tom Cora, Anne Bourne, Eric Longsworth. Das Sextett hieß „Last Leg“. Die Leute standen drauf, vor allem, weil dem guten Tom sein vollgepackter Notenständer von der Bühne herunterfiel, was eine längere Pause noch sich zog.

Die allerersten Sprechversuche des Daxophons gibt es auf meiner LP „The Dawn of Dachsman“ zu hören. Schon etwas geschwätziger kommt es auf der Duo CD „Angel Carver“ daher (FMP CD 15, zusammen mit Tom Cora, der auf seinem Cello-Steg ähnliche Dinge macht, allerdings mit einer anderen Technik). In dem nun hier vorliegenden Opus hat es sich von einer Beilage zu einem Hauptgericht gemausert: das „nothing but“ auf der Titelseite stimmt zu 99,9 % – die einzige Ausnahme ist die drum machine im Stück #5.

Na klar hatte ich den schnöden Hintergedanken, einmal in kompakter Form zu zeigen, was dieses oft belächelte lnstrumentchen so alles kann. Und zwar pur. Mit anderen Worten, man hört auf dieser CD nur das in Schwingung versetzte Holz und eventuell noch das Zittern meiner Hand, aber sonst gar nichts. In den meisten Fällen mit einem Baßbogen angestrichen, angerissen, angetupft, oder gelegentlich perkussiv mit einem Bleistift angeklopft, der am oberen Ende ein kleines Radiergummi hat. In einem Fall (#8) spielt ein dünnes Eisensägeblatt mit.
Der Versuchung, Effektgeräte einzusetzen, konnte ich lediglich in zwei Punkten nicht widerstehen: 1. Das öfters vorkommende Vibrato ist zwar von Hand machbar (schaukeln), aber die Tonhöhen-Modulation eines Echogerätes ist dafür genausogut und auch bequemer — außerdem bringt das in diesem Fall mehr Schmalz. 2. Bei einigen wenigen Hintergrund-Spuren gibts eine Oktav-Dopplung, die man bekanntlich mit einem billigen Harmonizer macht. (Dagegen ist der oft auftauchende wahwah-artige Effekt holz-immanent). Ansonsten war der reguläre Aufnahmeweg: Kontaktmikrophon — Vorverstärker — Tonband.

Anstatt jetzt über die Musik und die brennenden Fragen des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu plaudern, möchte ich lieber noch einige nähere Einzelheiten über dieses Ding nachschieben – wie es aufgebaut ist, wie es funktioniert, oder auch nicht funktioniert. Die Leute, die das alles schon kennen, können hier das Heftchen zuklappen oder auch weiterlesen.

Also – das Daxophon zählt zur Familie der Idiophone, das sind alle Musikinstrumente, die aus sich selbst heraus klingen und kein anderes Medium (wie z. B. Saite, Membrane, Luftsäule, Computer Terminal) brauchen. Es besteht im Wesentlichen aus vier Teilen, von denen zwei mechanisch miteinander verbunden sind, zwei aber nicht. (1) Ein Bogen (ob Geigen-, Cello- Baßbogen oder sonstwas, ist Geschmacksache). Dieser Bogen regt mit seinem Strich (2) den eigentlichen Klang-erzeuger zur Schwingung an. Das ist in meinem Fall ein Holzbrettchen, durchschnittlich 330 mm lang, 30 mm breit, 5 mm dick. Dieses Stück Holz ist an seinem, sagen wir mal, Fußende mittels einer Klemmvorrichtung mit (3) dem Resonanzkästchen verbunden. (In diesem sitzen ein oder mehrere Kontaktmikrophone, die das akustisch/sensorische Signal elektrisch weiterleiten.) Das andere Ende des Brettchens ist freischwebend. Sein (durch den Bogenstrich verursachtes) Schwingungsverhalten, d. h. die Tonhöhe und die Klangfarbe, wird manipuliert durch (4) einen flachen Holzkeil, den ich der Einfachheit halber „Dax“ nenne. Er ist auf mindestens einer Seite leicht gewölbt und wird auf dem besagten Brettchen mit leichtem Druck schaukelstuhlartig hin- und hergewippt. Dieser Schaukel-Dax ist der Clou an der ganzen Sache, weil er weitgehend mechanische Reibung vermeidet. Man kann denselben Effekt auch mit jedem anderen harten Gegenstand erzielen (z. B. mit einem Messergriff) – aber das Hin- und Herschaben oder -klopfen verursacht dann im Kontaktmikrophon so viele Störgeräusche, daß man das Ganze nach kurzer Zeit leid ist.
Einer meiner Daxe ist auf einer Seite mit Gitarrenbünden bestückt, deren Abstand zu einem Ende hin immer geringer wird, wie bei einem Gitarrengriffbrett. Benutzt man diese Seite, so ergeben sich tonleiterähnliche Skalen im Gegensatz zu „slide notes“ auf der anderen Seite.

Da ich als einfacher Rechtshänder nur zwei Hände habe, lag es nahe, den Bogen mit der rechten Hand und den Dax mit der linken anzufassen. Daraus folgte unerbitterlich, daß der Kochlöffel und das mit ihm verklemmte Resonanzkästchen stationär und ohne zu wackeln installiert sein mußten. Die Tischkante war dafür immer gut genug, aber einmal gaben sie mir einen Tisch, der größer war als die ganze Bühne. Danach habe ich mir in mehrjähriger Gedankenarbeit ein dreibeiniges Gestell ausgedacht, das man zerlegen und in einer Tüte wegtragen kann.

Ganz kurz zum Namen, weil oft danach gefragt wird: ich hatte damals eine schwedische LP mit dem Titel „Säugetierstimmen Nordeuropas, Teil 1“, auf der neben Wölfen, Ratten, Fleder- und Feldmäusen auch ein Dachs vorkam, der mir durch sein erstaunliches Klangspektrum imponierte, von ganz tief bis ganz hoch. Also Dachsophon, der Gag mit Adolphe Sax inbegriffen. Das „chs“ mußte ich später durch ein „x“ ersetzen, weil ich es leid war, diese Geschichte immer wieder zu erzählen.
Wie die Tonhöhe des Kochlöffels im einzelnen manipuliert werden kann, ist nicht so einfach zu beschreiben. Es ist naheliegend: schaukelt man Richtung Fußende, wird der Ton tiefer, und umgekehrt. Hierbei ändert sich aber auch die Klangfarbe, was für das „Sprechen“ verantwortlich ist. Außerdem schwingt nicht nur der Teil vom Druckpunkt bis zum freischwebenden Ende, sondem auch die andere Seite bis zum Einklemmpunkt. Es macht einen großen Unterschied, an welcher Stelle des Brettchens man mit dem Bogen streicht: an der Spitze kommen ganz andere Töne als an den Seiten. Außerdem macht es einen Unterschied, ob man den Dax flach auf das Brett drückt oder nur auf dessen Seitenkante – der Klang und die Tonhöhe ist dann wieder anders, was den sehr verführerischen Jodel-Effekt ermöglicht. Eine verläßliche Tonskala wie bei Saiten gibts auch nicht – an irgendeiner Stelle kippt der Ton um (sowas wie Stimmbruch), und man findet sich in einer höheren oder tieferen Tonreihe. lch habe allerdings auch einige Brettchen, die lückenlos zwei Oktaven singen, ohne sich zu verschlucken. Aber das ist die Ausnahme.

Nebenbei, das Daxophon funktioniert natürlich auch mit jedem anderen stabilen Material, wie Metall, Plexiglas usw. – aber im Vergleich zu Holz klingt das ziemlich leblos und steril. Daß ein Stück Zeder völlig andere Töne macht als ein Stück Ebenholz (auch bei identischen Maßen), brauche ich sicher nicht besonders zu erwähnen. Selbst zwei Brettchen, nebeneinander aus demselben Klotz geschnitten, klingen nicht gleich. Zu guter Letzt spielt auch noch die Form eine erhebliche Rolle – sobald man irgendwo ein größeres Loch ausbohrt oder eine Ecke wegsägt oder eine Kante messerartig anschleift, klingt das Ding wieder ganz anders.

Kurzum, die Sache ist sehr unübersichtlich, man könnte auch sagen, uferlos. Dieses Ding, das ich Daxophon nenne, ist im Grunde nichts anderes als einer von x möglichen Prototypen – schon allein die Konstruktion des Resonanzkästchens oder die Plazierung der Tonabnehmer läßt viele Fragen offen, ganz zu schweigen von dem Rest. Ich könnte noch dies und das darüber erzählen, aber das mache ich lieber ein anderes Mal, oder auch nicht.

Im Lauf der Zeit haben sich bei mir einige Dutzend Brettchen angesammelt, von denen jedes quasi ein Instrument für sich ist – gleichzeitig unvollkommen und einzigartig. Eins ist allen gemeinsam: sie sind eigenwillig und störrisch, wetterfühlig und launisch – sowas hat man ja gerne. Einige sind hübsch, andere eher unscheinbar bis unhübsch. Einige sind ausgesprochene Brüllaffen, andere murmeln lieber still vor sich hin. Manche sind vielseitig und kooperativ, manche wollen immer nur das Eine. Ich habe ihnen gut zugeredet, sie öfters auch aufs Übelste beschimpft oder auch schon mal einem kurzerhand den Kopf abgesägt … Musik kann Terror sein. Sag ich ja immer.